EU-ToxRisk: Tierversuche - so lassen sie sich vermeiden

Tierversuchsfreie Sicherheitsbewertung für das 21. Jahrhundert

Paradigmenwechsel: weg vom Tierversuch – hin zu einem tiefen Verständnis der Wirkungsweise chemischer Substanzen

Projekt EU-ToxRisk – ein HORIZON-Projekt der Europäischen Union

Die Zahl der Versuchstiere in Deutschland ist seit Jahren weitgehend konstant. 2.825.066 Tiere wurden im Jahr 2018 eingesetzt. Tierstudien sind auch notwendig, um die Sicherheit und Toxizität chemischer Substanzen zu untersuchen. Dr. Sylvia Escher ist als Abteilungsleiterin In-silico-Toxikologie am Fraunhofer ITEM auf der Suche nach Alternativen zum Tierversuch.

»Wir arbeiten an unserem Institut mit mehreren Gruppen an neuen Konzepten zur Risikobewertung von Chemikalien«, erklärt die Chemikerin. Als Beispiel nennt sie das EU-Projekt EU-ToxRisk. Kulturen menschlicher Zellen und Organschnitte sollen Alternativen zu Tierversuchen ermöglichen. Bei EU-ToxRisk arbeiten 39 Partner aus 13 Ländern zusammen. Das seit 2016 laufende Vorhaben verfügt über ein Budget von über 30 Millionen Euro. Neben Universitäten, Forschungsinstituten und Unternehmen sind auch regulatorische Behörden beteiligt. Die Einbindung der Behörden ist ein wichtiger Faktor für den Erfolg des Projekts. Denn nur wenn die nationalen und EU-Behörden die neu entwickelten Verfahren zur Toxizitätsprüfung zulassen, können Tierversuche auch wirklich ersetzt werden.

Maus Tierversuche vermeiden EU-ToxRisk
© H. & HJ. Koch
Mäuse sind die am häufigsten verwendeten Tiere in der Forschung. Seit der Entschlüsselung des Mausgenoms im Jahr 2002 ist bekannt, dass die Gene der Maus und des Menschen zu 98 Prozent übereinstimmen.

Das Ziel ist nicht nur eine schonendere, sondern auch eine bessere Alternative. Klassisch werden Tiere den Testsubstanzen ausgesetzt.

Die Forscher beobachten: Entstehen Entzündungen? Werden Organe geschädigt? Gibt es Schäden durch eine kontinuierliche, langzeitige Exposition gegenüber geringen Konzentrationen eines Stoffes, wie sie zum Beispiel täglich durch die Atemluft aufgenommen werden? Welche Mechanismen zu den beobachteten adversen Veränderungen führen, bleibt jedoch meist unklar.

»Im Rahmen von EU-ToxRisk untersuchen wir die Kaskade, die eine Substanz im Körper auslöst«, verdeutlicht Sylvia Escher die Vorteile. Das beginnt mit ersten molekularen Interaktionen des Stoffes, etwa mit Rezeptoren auf der Zelle, geht über in eine Reaktion der Zellen und führt über die Auswirkungen auf die Organe bis hin zu Veränderungen im Gesamtorganismus.

Neun Fallstudien laufen bei EU-ToxRisk, an drei dieser Studien ist das Fraunhofer ITEM mit mehreren Arbeitsgruppen beteiligt. Dr. Tanja Hansen, Arbeitsgruppenleiterin In-vitro-Testsysteme, untersucht aktuell die Toxikologie von flüchtigen Verbindungen am Beispiel von Diketonen. Der bekannteste Vertreter dieser Stoffgruppe ist das Diacetyl, eine chemische Verbindung, die natürlicher Bestandteil von Butter ist und industriell hergestellt als Butteraroma dient – unter anderem zur Aromatisierung von Popcorn.

Simulation mit menschlichem Gewebe

Was passiert, wenn Menschen Diacetyl einatmen? Kann der Stoff die Lunge schädigen? Sylvia Escher und Tanja Hansen nutzen zur Beantwortung dieser Fragen eine Apparatur, die am Fraunhofer ITEM entwickelt wurde: den P.R.I.T.® Expo-Cube®. Damit können sie simulieren, wie flüchtige Substanzen auf Zellen und Gewebe einwirken.

Menschliche Bronchialepithelzellen werden auf Membranen an der Luft-Flüssigkeitsgrenze kultiviert, um so die Situation in der Lunge zu simulieren. Mithilfe des P.R.I.T.® ExpoCube® wird gasförmiges Diacetyl über die Oberfläche der Zellen geleitet. Anschließend wird der Effekt auf die Zellen mit biochemischen Methoden untersucht. Durch umfangreiche Genexpressionsanalysen kann das Forscher-Team erkennen, welche Gene die Zellen an- bzw. ausgeschaltet haben. Aus diesen Daten lässt sich ermitteln, welche Signalwege im Inneren der Zelle aktiviert wurden. Das können zum Beispiel Signalwege sein, die zur Produktion entzündungsfördernder Botenstoffe führen.

Im nächsten Schritt erfolgt die Untersuchung auf dem Niveau der Organe. Dazu nutzen die Forschenden lebende, kultivierte Gewebeschnitte aus menschlichen Lungen, die viele Funktionen des Organs besitzen. Genau wie die Zellkulturen werden auch die Lungenschnitte im P.R.I.T.® ExpoCube® gegenüber Diacetyl exponiert und anschließend intensiv analysiert.

Um das Verhalten von Diacetyl im Körper zu simulieren, stellen die Projektpartner komplexe Modellberechnungen an, die sie als In-silico-Methoden bezeichnen. Diese computergestützten Modellierungen bilden schon weitestgehend ab, wie ein Stoff nach der Inhalation im Organismus absorbiert, verteilt und ausgeschieden wird. »Die In-vitro- und In-silico-Daten ergeben ein genaues Bild, wie Diacetyl die Lungen schädigt«, berichtet Sylvia Escher. »Sie decken sich mit den vorliegenden In-vivo-Daten aus den Tierversuchen.«

Daten ähnlicher Substanzen nutzen

Erster Schritt, um mit den alternativen Methoden Tierversuche zu vermeiden, ist der »Read-Across-Ansatz«. Will man eine neue Chemikalie nach diesem Verfahren zulassen, sucht man nach ähnlichen Substanzen, für die es bereits toxikologische Daten aus Tierversuchen gibt. Im Read-Across werden diese Daten dann auf die neue Schwesterchemikalie übertragen. »Dieser Ansatz ist heute bereits prinzipiell möglich. In der Praxis ist es bisher aber schwer nachzuweisen, dass zwei Stoffe so ähnlich sind, dass sie auch wirklich dieselbe Toxizität haben«, betont Sylvia Escher. »Daher werden die Read-Across-Ansätze bisher nur selten von den Zulassungs-behörden akzeptiert.«

Die Projektteams haben in den Fallstudien Gruppen eng verwandter Substanzen untersucht und umfassende In-vitro- und In-silico-Daten erhoben, um die Akzeptanz zu steigern. Bei diesen Untersuchungen konnten sie zeigen, dass die Methoden bestens geeignet sind, die Toxizität strukturell verwandter Stoffe zu bestimmen. Wie ein Read-Across-Ansatz durch tierversuchsfreie Daten möglich wird, haben die Kooperationspartner in einer ausführlichen Studie dargelegt.

»Wir haben früh eine enge Abstimmung und Diskussion mit den Zulassungsbehörden gesucht und das Konzept permanent angepasst. Damit sind wir einen Riesenschritt vorwärts gekommen in Richtung Akzeptanz«, so Sylvia Escher.

Das nächste Ziel haben die EU-ToxRisk-Partner schon vor Augen: Sie wollen auch für Substanzen, bei denen kein Read-Across-Ansatz möglich ist, tierversuchsfreie Toxizitätstests etablieren. Das Projekt läuft bis Ende 2021.

 

Text: Christine Broll, erschienen im Fraunhofer-Magazin weiter.vorn 03/2020.

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Sylvia Escher

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Dr. Sylvia Escher

Abteilungsleiterin In-silico-Toxikologie

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