Die Strategie, Tierversuche zu reduzieren oder ganz zu vermeiden, verfolgt das Fraunhofer ITEM bereits seit seiner Gründung vor 35 Jahren. Seitdem haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, insbesondere den Respirationstrakt betreffend, zahlreiche In-vitro-Testverfahren – seien es Zell- oder Gewebekulturen – entwickelt und auch die Methodik verfeinert. Die Frage, inwiefern Ergebnisse aus In-vitro-Untersuchungen auf die Toxizität im komplexen Organismus Mensch übertragen werden können, ist sicherlich ein Grund dafür, dass Alternativmethoden von den regulatorischen Behörden nur in seltenen Fällen anerkannt werden. Für eine bessere Akzeptanz solcher Methoden muss eine Wissenslücke zwischen den Erkenntnissen aus Alternativmethoden und ihrer Übertragbarkeit auf die menschliche Gesundheit geschlossen werden. Diese Situation wird derzeit auf verschiedenen Ebenen – auch international – erkannt und diskutiert. Beispiel hierfür ist das groß angelegte EU-Projekt »EU-ToxRisk«. Hier sollen für den Paradigmenwechsel in der Toxikologie – hin zu einer effizienteren und tierversuchsfreien Sicherheitsbewertung von Chemikalien – neue Grundlagen erarbeitet werden. An dem mit 30 Millionen Euro geförderten Projekt sind insgesamt 39 Partner aus Wissenschaft, Industrie und europäischen Regulierungsbehörden beteiligt. Das Fraunhofer ITEM bringt hier seine Expertise mit Fokus auf die Inhalationstoxikologie ein.
Im Forschungsverbund R2N beteiligt sich das Fraunhofer ITEM an drei Teilprojekten. Das von Dr. Tanja Hansen geleitete Teilprojekt soll Grundlagen erarbeiten für eine tierversuchsfreie Sicherheitsbewertung von inhalierbaren Substanzen auf der Basis von Alternativmethoden. Mithilfe von Daten zu einzelnen Modellsubstanzen mit bekannter adverser Wirkung auf die Lunge soll ein möglicher toxischer Wirkmechanismus und eine Dosis-Wirkungsbeziehung des Effekts erkannt werden. In verschiedenen In-vitro-Testsystemen sollen dann einzelne Effekte, die zur adversen Gesamtwirkung beitragen, untersucht werden. Dabei werden die Lungenzellkulturen an der Luft-Flüssigkeitsgrenze, also unter Bedingungen, wie sie auch natürlicherweise in der Lunge herrschen, kultiviert. Die in vitro ermittelten Effekte und deren Dosisabhängigkeit werden dann zur Ableitung einer mathematischen Korrelation eingesetzt, die letztendlich eine Übertragung der Dosis-Wirkungsbeziehung von der Zelle auf den Organismus ermöglichen soll.
Einen großen Beitrag für dieses Forschungsvorhaben können PCLS (Precision-Cut Lung Slices) leisten, die Präzisionslungenschnitte, an denen Dr. Katherina Sewald mit ihrem Team am Fraunhofer ITEM forscht. Bei Gewebeschnitten liegen alle Zellen in ihrem natürlichen Verband vor und Reaktionen der Lunge auf verschiedene chemische Stoffe, Arzneimittel, aber auch auf Bakterien und Viren können hier viel genauer untersucht werden als in Einzelzellkulturen, ohne lebende Tiere dafür einzusetzen – ein großer Vorteil. Diese Expertise bringt Dr. Sewald in zwei Teilprojekten in Kooperation mit der Tierärztlichen Hochschule Hannover ein. Hier soll zunächst eine Gewebe- und Zellbank aufgebaut werden. Untersuchungen sollen zeigen, inwiefern sich Zellkulturen, die aus den Proben in der Gewebe- und Zellbank hergestellt werden, eignen, um an den Eigenschaften neuer Viruserkrankungen des Atmungsapparats von Mensch und Tier näher zu forschen. Somit könnten Erkrankungen wie Asthma auch in vitro näher untersucht oder der Einfluss von Medikamenten und Immunmodulatoren in Zellkulturen überprüft werden – ein Aspekt, mit dem sich Dr. Sewald bereits in aktuellen Forschungsstudien befasst. Beispielsweise läuft zurzeit das vom BMBF geförderte Projekt »InhalAb« mit dem Ziel, eine Testbatterie von In-vitro- und Ex-vivo-Lungenmodellen zur präklinischen Prüfung inhalierbarer Antibiotika als Alternativmodelle zum Tierversuch zu etablieren.
»Unser Ziel ist es, Tierversuche in der Forschung zu reduzieren und sie nur noch als Ultima Ratio einzusetzen. Mit dem Verbund fördern wir Ersatz- und Ergänzungsmethoden. Zugleich geben wir der gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft und ethischen Fragen mehr Gewicht«, sagte Gabriele Heinen-Kljajić, Niedersächsische Ministerin für Wissenschaft und Kultur. An dem Verbund beteiligen sich Institute aus Hannover, wie die Medizinische Hochschule, die Tierärztliche Hochschule, das Fraunhofer ITEM und das Twincore, und aus Göttingen die Universitätsmedizin Göttingen sowie das Deutsche Primatenzentrum.