Tierversuche ersetzen

Fraunhofer ITEM treibt neue methodische Ansätze voran

Der Mensch ist sein ganzes Leben lang Chemikalien ausgesetzt, sei es in der Umwelt, am Arbeitsplatz oder durch den Gebrauch von Haushalts- und Pflegeprodukten. Ziel der Sicherheitsbewertung ist es, das Risiko dieser Chemikalien für die menschliche Gesundheit zu untersuchen. Zurzeit geschieht dies auf der Grundlage von Daten aus Tierversuchen.

Ein Paradigmenwechsel ist im Gang und die Forschenden am Fraunhofer ITEM bringen auch bei diesem Thema ihre Expertisen ein. Die Wissenschaftlerinnen Dr. Sylvia Escher, Leiterin der Abteilung In-silico-Toxikologie, und Dr. Tanja Hansen, Leiterin der Arbeitsgruppe In-vitro-Testsysteme, geben Antworten auf aktuelle Fragen.

Die Wissenschaftlerinnen vom Fraunhofer ITEM, Dr. Sylvia Escher und Dr. Tanja Hansen, sprechen über den Paradigmenwechsel in der Risikobewertung von Chemikalien.
© Fraunhofer ITEM/Till Holland
Die Wissenschaftlerinnen vom Fraunhofer ITEM, Dr. Sylvia Escher und Dr. Tanja Hansen, sprechen über den Paradigmenwechsel in der Risikobewertung von Chemikalien.

Interview: Paradigmenwechsel in der Risikobewertung von Chemikalien

Frau Dr. Escher, in welche Richtung geht der Paradigmenwechsel in der Risikobewertung?

Die Richtung geht eindeutig weg vom Tierversuch und hin zu einer Risikobewertung, die die Mechanismen, die zu ungewollten toxischen Effekten führen, besser verstehen und berücksichtigen wird. Dabei geht man davon aus, dass ein besseres Verständnis dieser Mechanismen die Entwicklung spezifischer, auf den menschlichen Organismus abgestimmter Testsysteme ermöglichen wird, mit denen Tierversuche ersetzt oder zumindest ihre Anzahl reduziert werden könnten.

Frau Dr. Hansen, was können Sie als Wissenschaftlerinnen am Fraunhofer ITEM beitragen?

Wir sind mit unseren Arbeitsgruppen an mehreren Projekten beteiligt, die darauf abzielen, In-vivo-Tierversuche durch neue methodische Ansätze – sogenannte »New Approach Methodologies«, kurz NAMs – zu ersetzen bzw. zu reduzieren. Zu diesen NAMs zählen In-vitro-Testbatterien und computergestützte Modellierungsansätze, sogenannte In-silico-Modelle.

© Fraunhofer ITEM, Ralf Mohr
Basierend auf bestehenden In-vivo-Daten können Read-Across-Hypothesen abgeleitet werden.

Frau Dr. Escher, können Sie ein Beispielprojekt nennen?

In dem Projekt EU-ToxRisk haben wir kürzlich eine Fallstudie abgeschlossen, in der die systemische Toxizität einer verzweigten Carbonsäure über eine Kombination aus In-vitro- und In-silico-Modellen bewertet wurde. Dies wurde im Rahmen eines Read-Across-Ansatzes mit zehn strukturellen Analoga realisiert. Zu drei strukturell verwandten Stoffen lagen auch Daten vor. Ein Team aus 14 akademischen Instituten war an der Entwicklung der Teststrategie beteiligt. Basierend auf den vorliegenden In-vivo-Daten wurde die folgende Read-Across-Hypothese abgeleitet: Die zu beurteilende Carbonsäure 2-Ethylbuttersäure, 2-EBA, wirkt leberschädigend und kann möglicherweise eine Steatose verursachen. Mithilfe der NAM-Daten konnte gezeigt werden, dass diese Read-Across-Hypothese nicht zutrifft, indem sie innerhalb der gruppierten Chemikalien eine konstante Tendenz in Bezug auf Toxikokinetik und Toxikodynamik zeigten.

Zur Charakterisierung der Toxikodynamik wurden publizierte Signalwege, die zu Steatose führen, aus der Literatur zusammengetragen und in einem AOP-Netzwerk beschrieben. AOP ist aus dem Englischen »Adverse Outcome Pathway« abgeleitet. In zwei Hochdurchsatzmodellen wurden einige der beschriebenen auslösenden Ereignisse auf Molekularebene, kurz MIEs für »Molecular Initiating Events«, gemessen. Weiter wurden drei Lebermodelle zur Messung von Lipidakkumulation eingesetzt, die als direktes In-vitro-Pendant zur In-vivo-Steatose betrachtet wurden. Es zeigte sich, dass die Anzahl der aktivierten MIEs und die Induktion der Lipidakkumulation mit der Seitenkettenlänge der getesteten Carbonsäure zunimmt, während kurzkettige Analoga wie 2-EBA inaktiv sind. Dieses Ergebnis stimmt sehr gut mit den In-vivo-Daten überein.

Die nächste Frage, die sich stellt, ist, wie man basierend auf In-vitro-Versuchen eine Dosis ableitet, unterhalb derer kein Risiko für die menschliche Gesundheit besteht. Hierzu wurde ein auf der menschlichen Physiologie basierendes Modell, also ein PBPK-Modell, im Projekt EU-ToxRisk weiterentwickelt. Das PBPK-Modell erlaubt eine Umrechnung von einer in vitro gefunden Dosis auf eine im Menschen equivalente Dosis, besser bekannt unter dem Begriff In-vitro-zu-in-vivo-Extrapolation. Die Ergebnisse dieser erfolgreichen Fallstudie werden zurzeit von Toxikologen verschiedener nationaler und internationaler regulatorischer Behörden überprüft. Eine Veröffentlichung ist für 2019 vorgesehen.

Frau Dr. Hansen, wie können In-vitro-Testsysteme aus Ihrer Arbeitsgruppe zur alternativen Risikobewertung beitragen?

Gemeinsam mit drei Partnern aus Wissenschaft und Industrie entwickeln wir in dem BMBF-Projekt ExITox-2 – Explain Inhalation Toxicology – neue methodische Ansätze, also NAMs, zur Bewertung inhalierbarer Chemikalien. Durch Exposition einer menschlichen Alveolarepithelzelllinie und von Präzisionslungenschnitten an der Luft-Flüssigkeitsgrenze untersuchen wir die Gefährlichkeit von fünf Stoffklassen, die gemeinsame strukturelle Eigenschaften aufweisen und in In-vivo-Studien zu den gleichen spezifischen unerwünschten Wirkungen führten. Zu den in ExITox-2 getesteten Substanzklassen zählen flüchtige organische Verbindungen und Nanopartikel.

Um die Expositionssituation des Epithels in der lebenden Lunge zu simulieren, wird in der Regel die Air-Liquid-Interface-, kurz ALI-Technologie, auf der Basis von Zellkulturen auf mikroporösen Membranen eingesetzt. Am Fraunhofer ITEM haben wir ein patentiertes Expositionsgerät entwickelt, den P.R.I.T.® ExpoCube®, mit dem ALI-Kulturen für die Prüfung verschiedener Klassen inhalierbarer Substanzen mit hoher Reproduzierbarkeit und ausreichender Dosiskontrolle verwendet werden können. Der ExpoCube® ermöglicht die Exposition von ALI-Kulturen aus Zellen oder Geweben direkt in 12-Well-Platten, verhindert Sekundärexpositionen über das Kulturmedium und sorgt für eine effiziente Partikeldeposition durch Thermophorese. Damit schafft er die technologische Basis für neue experimentelle Vorhaben.

In dem Projekt ExITox-2 wurden fünf auf Read-Across basierende Substanzklassen mit dem ExpoCube® an menschlichen A549-Lungenepithelzellen auf Zelltoxizität geprüft. Sekundäre Amine sind dafür bekannt, dass sie in In-vivo-Tierstudien Entzündungen der Lunge hervorrufen. Auch im In-vitro-Modell ließ sich eine Schädigung der Lungenzellen durch diese Stoffe nachweisen.

P.R.I.T.® ExpoCube®
© Fraunhofer ITEM, Ralf Mohr
Am Fraunhofer ITEM haben wir ein patentiertes Expositionsgerät entwickelt, den P.R.I.T.® ExpoCube®, mit dem ALI-Kulturen für die Prüfung verschiedener Klassen inhalierbarer Substanzen mit hoher Reproduzierbarkeit und ausreichender Dosiskontrolle verwendet werden können.

Wie soll in ExITox-2 eine In-vitro-zu-in-vivo-Extrapolation realisiert werden?

Unter anderem für diese Fragestellung haben wir ein Lungen-PBPK-Modell mit drei Kompartimenten entwickelt. Mit diesem lässt sich die Aufnahme von Substanzen über die Atemwege besser abschätzen. Der Transport durch das Lungenepithel gilt als wichtiger geschwindigkeitsbegrenzender Schritt in der systemischen Aufnahme von inhalierten Chemikalien. Daher wird der transepitheliale Transport für verschiedene Substanzklassen untersucht und die resultierenden Permeabilitätskoeffizienten werden als Eingangsparameter für das Lungen-PBPK-Modell verwendet.

Frau Dr. Escher, was genau bedeuten diese Arbeiten für die Risikobewertung der Zukunft?

Wir denken, dass wir mithilfe der oben genannten Fallstudien aus dem EU-ToxRisk-Projekt und den Ergebnissen des ExITox-Projekts zu einem besseren Verständnis integrierter Teststrategien und ihrer Anwendung in der Risikobewertung beitragen. Fallstudien wie die hier beschriebenen sind notwendig, um regulatorische Akzeptanz zu erreichen. Natürlich glauben wir, dass wir mit unseren In-vitro-Testsystemen speziell für inhalierbare Chemikalien helfen werden, den Paradigmenwechsel hin zu alternativen Bewertungsmethoden voranzubringen.